Teil 2: Ein Treibhaus der Zukunft. Mitten im Ruhrgebiet
Ein Treibhaus der Zukunft. Mitten im Ruhrgebiet. In der »Lernwerkstatt Natur« sind Kinder (und Erzieherinnen) Forscher. Wissenschaftler beobachten sie dabei. Gerd E. Schäfer, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Köln und Projektleiter der »Lernwerkstatt Natur« stellt einen Ausschnitt der Erfahrungen, Theorien und Ideen vor, die im Frühjahr 2008 beim verlag das netz erscheinen. In Betrifft KINDER, Heft 1-2 skizzierte er u.a. die Entwicklungswege des Erfahrungswissens: vom konkreten, über das aisthetische und narrative bis zum theoretischen Denken. Nachfolgend lesen Sie Teil 2.
Narratives Denken
Kleine Kinder denken in Bildern und Szenen. Im Spiel werden sie agiert, verwirklicht. Die Kinder probieren aus, wie die Dinge zusammenhängen könnten. Es entsteht eine Welt, die die Kinder für sich arrangiert haben, eine Welt in Bildern und Zusammenhängen, deren Finder und Erfinder sie sind. Erzählend werden diese Bilderszenen in Sprache verwandelt, sobald Kinder der Sprache mächtig sind. Kinder sprechen über das, was ihnen durch den Kopf geht. Es entstehen Geschichten. Sie repräsentieren, was wahrgenommen, empfunden und in erinnerbaren Erlebnissen zusammengefasst werden konnte.
Das narrative Denken markiert den Übergang von der bildhaftszenischen Repräsentation zur sprachlichen und damit auch von eine performativen Logik zu einer sprachlich-logischen Ordnung.
Die Beobachtung von Kindern bei ihren eigenen Denkbewegungen in der Lernwerkstatt zeigt, dass die Bilder und Szenen auch im sprachlichen Denken zunächst die Hauptrolle spielen. Es scheint, als würden sie erst einmal in Sprache übersetzt, wobei die performative Logik beibehalten wird.
Unsere Beobachtungen legen ferner nahe, dass Kinder sehr intensiv in dieses Denken eintauchen. Der Zusammenhang ihrer Naturerfahrungen mit dem Handeln in Alltagskontexten bleibt dabei erhalten. Die Isolierung von Objekten und die Konstruktion von abstrakt logischen Zusammenhängen scheint der nächsten Entwicklung vorbehalten zu sein, dem theoretischen Denken, das diese kindliche Denkwelt mit dem kulturellen Wissen in Verbindung bringt. Es verbindet sich mit dem Interesse der Kinder für kulturelle Symbolwelten und ihrer wichtigsten Form, der geschriebenen Sprache.
Vornehmlich durch die Sprache wird Können und Wissen bewusst. Dabei verwandelt sich Wissen von einem impliziten zum expliziten Wissen. Implizites Können und Wissen ist eines, das man hat, aber sich dessen nicht bewusst ist, dass man es hat. Beim expliziten Können und Wissen hat man ein Bewusstsein davon. Das ist die Voraussetzung, dass man darüber nachdenken und das Wissen dabei verändern kann.
In Metaphern denken
In Metaphern denken meint, dass Kinder die Bilder und Szenen, die sie aus ihren Erfahrungen im Kopf haben, dazu benutzen, um Dinge, die ihnen unbekannt sind, zu beschreiben. Sie vergleichen sie nicht, wie Erwachsene, mit anderen Ereignissen, sondern sie beschreiben sie in den Bildern und Worten ihrer gelebten Erfahrungen. Deshalb ist die Sprache der kleinen Kinder so voller Bilder. Sie bezeugen, wie genau und intensiv sie ihre Welt wahrnehmen.
Wir Erwachsene sind immer wieder erstaunt, dass kleine Kinder Dinge und Einzelheiten bemerken, die wir übersehen. Sie belegen, dass sie ständig darüber nachdenken, was diese Dinge bedeuten. Es ist tatsächlich so, dass sie, wenn man sie nicht hindert, wie mit Suchscheinwerfern durch ihre Welt gehen, immer auf der Suche nach Dingen, von denen sie wissen wollen, wozu sie gebraucht werden, was man damit noch machen kann und wie man sie als Bausteine für das eigene Bild von der Welt einsetzen kann.
Wie Lakoff und Johnson dargestellt haben, bilden diese Raum-, Bewegungs- und Handlungsmetaphern auch die Grundlage unserer abstrakten Begriffssprache, so dass wir davon ausgehen können, dass die Organisation des abstrakten Denkens auf der Grundlage eines konkreten Umgangs mit der Wirklichkeit erfolgt.
Es ist erstaunlich, wie viele Metaphern die Wissenschaftssprache enthält. Um nur einige Beispiel anzudeuten: Die Sprache der Physik vom Big Bang über die Schwarzen Löcher des Weltalls, den gekrümmten Raum, über Kraft, Masse oder Gleichgewicht bis hin zu den Bahnen der Elementarteilchen ist voller Bilder aus der alltäglichen Erfahrung.
Von daher wird verständlich, dass ohne ausreichende und differenzierte Erfahrungen von der belebten oder nichtbelebten materiellen Welt nicht nur das Interesse an Natur und Naturwissenschaft nicht unterstützt wird, sondern ein wichtiger Grundstein für eine differenzierte Sprachwelt nicht gelegt wird. Eine Erzieherin hat dies beim Besuch der Naturwerkstatt so ausgedrückt: »Was hier geschieht, das ist ständige ›Sprachförderung‹.«
Hier drei Beispiele aus der Lernwerkstatt Natur:
• Kinder waten mit ihren Gummistiefeln durch einen Sumpf. Dabei bleiben sie im Matsch stecken und kommentieren: »Die Erde schmilzt.«
• Ein Junge spielt mit einer grünen Wäscheklammer und sagt: »Das ist ein Krokodilschiff. Mein Krokodilschiff schwimmt auf alle Fälle, weil – Krokodile schwimmen ja auch!«
• Kinder denken über Schnecken nach: »Die Schnecken haben an den Bäumen festgeklebt. Da haben wir sie gefunden und abgemacht. Wie können die denn da kleben?« »Die machen in ihrem Körper so etwas ähnliches wie Kleber, und das ist ihr Schneckenschleim.«
Aber die Kinder beschreiben ihre Erfahrungen nicht nur in erlebten Szenen oder Bildern, sondern denken sie auch logisch zu Ende, wie an den Beispielen vom »Krokodilschiff« und vom »Schneckenkleber« nachvollzogen werden kann. Wenn Krokodile schwimmen, dann schwimmt auch ein Schiff, das wie ein Krokodil aussieht. Wenn mit Kleber Dinge zusammengeklebt werden können, dann produzieren die Schnecken eben einen Kleber.
Die Kinder stützen sich dabei nicht unbedingt auf die den Erwachsenen vertraute Logik der Sache, sondern auf die Logik der Bilder und erfahrener Handlungszusammenhänge, die sie für ihre Verstehensversuche heranziehen.
In Geschichten denken
Indem Kinder über ihre Erfahrungen und Vorstellungen sprechen, bilden sie eine zweite Form der Repräsentation. Die sprachlich erzählte Welt ist ein Stück Welt im Kopf, nach außen gebracht und all jenen zugänglich gemacht, die die Worte hören.
Was nicht auf diese oder ähnliche Weise in das Bewusstsein trat und ins Gespräch mit anderen eingefügt wurde, kann später nicht oder nur schwer bewusst erinnert werden. Die frühkindliche Amnesie wird damit in Zusammenhang gebracht, dass die frühkindlichen Erfahrungen diese zweite Ebene der sprachlichen Reflexion nicht erreichen und damit dem Bewusstsein fern bleiben.
Wollen wir, dass Kinder ihre Naturerfahrungen vom impliziten in ein explizites Wissen verwandeln, dann ist es wichtig, dass Kinder über ihre Erfahrungen im Bereich der Natur sprechen, mit sich, mit anderen Kindern und mit Erwachsenen, die interessiert zuhören.
Dadurch, dass Ereignisse bewusst werden, lassen sie sich verändern. Sprechend werden sie betrachtet und/oder auch gedreht, gewendet und unter neuen Perspektiven zusammengesetzt. »Was wäre, wenn...«, scheinen Kinder erzählend zu fragen.
Situationen fordern Kinder dazu heraus, Geschichten zu finden und zu erfinden, die dazu passen. Im Gespräch erzählen sie sich diese Geschichten, malen sie einander aus, ergänzen, erweitern, verändern sie. Geschichten begegnen Geschichten.
Auf dem Gelände der Naturwerkstatt findet sich eine vergitterte Höhle. Gerade weil sie unzugänglich ist und nicht wirklich erkundet werden kann, entstehen Geschichten und Vermutungen, was in dieser Höhle sein könnte. Fast jede Kindergruppe wird von ihr angezogen, und in jeder dieser Gruppen entstehen neue Geschichten. Sie zeigen nicht nur, wie sich die unterschiedlichen Erfahrungen der Kinder mit dieser Höhle verbinden, sondern auch, dass die Bedeutung, die sie für die Kinder gewinnt, erst in der Interaktion der Kinder entsteht.
Die Höhle hat keine Bedeutung, sondern sie bekommt im Kontext bisheriger, von Kindern für bedeutsam gehaltener Lebenserfahrungen eine Bedeutung. Erst in der Auseinandersetzung der Kinder mit dem Gelände wird sie erzeugt. Wenn Kinder sich die Geschichten gegenseitig erzählen und sie miteinander verbinden, handeln sie diese Bedeutung gemeinsam aus.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03-04/08 lesen.