Spielend rechnen lernen mit Adam Ries
Elisabeth C. Gründlers Begeisterung für Rechenbretter machte uns neugierig. Wir baten sie, die Quadratur des Kreises zu lösen und eine Anleitung zum Gebrauch von Rechenbrettern zu schreiben, die unsere Lust am Spiel mit bunten Kugeln und Plastikchips entfacht. Sie nahm die Herausforderung an und kramte ihre Rechenbretter hervor. Das Spiel mit den wahrscheinlich klügsten Brettern der Welt nahm seinen Lauf und lässt uns am Ende verstehen, wie schön sich Mathematik anfühlen kann.
Es war einmal eine Zeit, als Knochen mit eingeritzten und zu Fünfergruppen angeordneten Strichen beim Rechnen halfen. Was genau unsere Vorfahr:innen zählten, bleibt im Dunkeln. Sogenannte »Kerbhölzer« jedoch wurden noch bis ins 19. Jahrhundert im ländlichen England genutzt, um die Höhe einer geliehenen Geldsumme mit Kerben auf einem Stück Holz zu markieren. Anschließend wurde es längs in zwei Teile gespalten, je eines mit identischen Kerben für Gläubiger und Schuldner. Letzterer war in der Regel Analphabet. Der hatte nun »etwas auf dem Kerbholz«, solange, bis seine Schulden beglichen waren und das Kerbholz oder je nach Höhe der Schulden, die Kerbhölzer verbrannt wurden.
Irgendwann, als sich die Helden Homers vor langer, langer Zeit daran machten, die schöne Helena aus Troja zu befreien, kam das Rechnen mit dem Brett in Mode. Auf darauf gezogen oder hineingeritzten Linien wurden kleine, helle Kalksteine, die »calculi« hin- und hergeschoben. Die Steine und Linien symbolisierten Mengen von real existierenden Dingen. Diese Erfindung gilt als Beginn des Kalkulierens, d.h. des Rechnens mit Zahlensymbolen. Es ist die Ansiedlung in Städten, die es notwendig macht, Überschüsse an Nahrungsmitteln zu produzieren, zu ordnen, zu verwalten und neu zu verteilen. Für diese Größenordnungen brauchte es den Schritt vom einfachen Zählen zur Entwicklung von Zahlensymbolen. Wo und wann auch immer Menschen in der Welt sesshaft wurden, entwickelten sie Rechenbretter.
Ries-Rechenbrett
Viele Gesichter, eine Funktion
Ob europäisches Ries-Rechenbrett, chinesischer Abakus oder die Taptana aus Südamerika: Das Rechenbrett folgt immer demselben Prinzip: Auf oder in einer festen Unterlage – Brett, Rahmen oder Kästchen – symbolisieren Linien, Rillen, Stäbe oder auch Vertiefungen jeweils Zahlen- oder Stellenwerte. Darin oder darauf werden bewegliche Gegenstände – Steine, Münzen, Kugeln oder auch Samenkörner – die ebenfalls Zahlenwerte darstellen, mit den Fingern bewegt. Durch das Verschieben nach klaren Regeln findet man Antworten auf Fragen wie »Wie viel sind fünf und drei und acht?« oder »Was macht 144 geteilt durch 12?« Dass ausgerechnet das bekannteste aller Rechenbretter, der Abakus, gar kein Brett ist, sondern ein Holzrahmen mit auf Stäben gezogenen Perlen, mag auf den ersten Blick erklärungsbedürftig sein. Die Lösung ist einfach: Die Stäbe ersetzen die Linien und tatsächlich stammt das Wort »Abakus« vom Griechischen »abax« ab, was »Brett« oder »Tafel« bedeutet.
Vom Bekannten zum Unbekannten
»Ist das umständlich! ... Das geht doch viel zu langsam!« lautet häufig der Kommentar, wenn jemand mein Spiel mit Rechenbrettern beobachtet. Völlig zu Recht! Schnelligkeit beim Rechnen war weder in der Antike noch im Mittelalter gefragt. Reden oder Schreiben – also Kommunikation überwiegend aufgrund von Symbolen – geht immer schneller als das Bewegen dreidimensionaler Gegenstände in Raum und Zeit. Das Bedürfnis nach Effektivität und Zeitersparnis und damit auch nach mehr Geschwindigkeit durch schriftliches Rechnen ausschließlich mit Zahlensymbolen entsteht erst in der Neuzeit und verstärkt in der Industrialisierung. Der Computer war dafür die Lösung. Doch in meiner Geschichte geht es nicht um Geschwindigkeit, sondern um die Lernprozesse von Kindern! Kinder lernen anders als Erwachsene.
Spielchips
Pädagogisches Verständnis beweist Adam Ries, als er um 1500 die römischen Zahlen auf dem traditionellen Rechenbrett mit den damals neuartigen arabischen Ziffern ergänzt und damit dem Lernprinzip »Vom Bekannten zum Unbekannten« folgt. Seine Schüler ließ er das Rechnen zunächst auf dem Brett üben. Erst wenn sie dies sicher beherrschten, begannen sie mit dem schriftlichen Rechnen, welches ohne die konkrete, senso-motorisch operationale Ebene auskommt. Dass die sensomotorisch operationale Lernphase in der herkömmlichen Grundschul-Didaktik nicht mehr berücksichtigt wird und möglichst rasch zugunsten des rein kognitiven Rechnens (»... und jetzt gleich noch mal ohne die Fingerchen – nur im Kopf«) überspringt, ignoriert nicht nur altes, sondern auch modernes Wissen. Spätestens seit den Forschungen des Schweizer Biologen und Pioniers der kognitiven Entwicklungspsychologie Jean Piaget, also seit gut 80 Jahren, wissen wir: Kinder lernen bis etwa zu ihrem dritten Lebensjahr vorwiegend senso-motorisch und operational, also durch konkretes Tun. Sie lernen, indem sie, wie Maria Montessori es nannte, ihre Arbeit machen. In ihrem eigenen Takt, ihrer eigenen Zeit und ihrer eigenen Herangehensweise. Die Kognition schwingt dabei von Anfang an mit und ihr Anteil wächst von Jahr zu Jahr. Diesen Reifeprozess beschleunigen zu wollen, richtet Schaden an und produziert am Ende Erwachsene, die mit Mathe, wie man regelmäßig hört, »eigentlich noch nie so recht was anfangen konnten.
Elisabeth C. Gründler ist ausgebildete Pädagogin und begleitete mehrere Jahrzehnte lang Kinder und Jugendliche aller Altersstufen sowie Erwachsene an öffentlichen und an freien Schulen in ihren Lernprozessen. Das freie Spiel öffnete der Journalistin und Autorin mehrerer Bücher den Blick auf Möglichkeiten darüber hinaus. Wie sie das Rechenbrett bei Rebeca und Mauricio Wild in deren Workshops in Europa ab 1990 und später auch in Ecuador kennen und schätzen lernte, beschreibt sie in Betrifft KINDER 07-08/22, »... keine Zehnerkuh. Ein Plädoyer für senso-motorisches Rechnen« und wie das Rechenbrett nach Europa kam und wieder verboten wurde in Betrifft KINDER 01-02/23 »Rechenbrett 2.0«.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 07-08/2024 lesen.