Für eine bedürfnisorientierte, beziehungsstarke Eingewöhnung und gewaltfreie Kindheit
Das neue Kitajahr ist für viele Kitas auch die Zeit mit den meisten Eingewöhnungen. Seit Einführung des auf der Bindungstheorie von John Bowlby basierenden Berliner Eingewöhnungsmodells hat sich viel getan. Ein Plakat der Autorin und Weiterbildnerin Anja Cantzler über Irrtümer und Mythen der Eingewöhnung sowie ihr Buch »Peergroup-Eingewöhnung« weckte unser Interesse. Unsere Redakteurin Jutta Gruber sprach mit ihr.
Liebe Anja Cantzler, du engagierst dich als Autorin und Weiterbildnerin für eine gewaltfreie Kindheit. Welchen Impulsen folgst du?
Ein wichtiger Aspekt ist für mich die Einsicht, dass Kinder ein Recht auf Respekt und Würde sowie Teilhabe und Mitbestimmung haben, und zwar von Anfang an. Geprägt haben mich im Lauf der Jahre auf jeden Fall Jesper Juul, Reformpädagog:innen wie Maria Montessori oder Emmi Pikler und Vertreter:innen der Humanistischen Psychologie wie Carl Rogers und Ruth Cohn oder auch Lehren, die ich aus meiner Beschäftigung mit den neuseeländischen Lerngeschichten gezogen habe: Das Kind als kompetenter Mensch – in Abgrenzung zum Bild vom Kind als kleinem Erwachsenen – mit einem eigenen Entwicklungstempo. Wichtig ist mir, einen Beitrag dafür zu leisten, dass jede Krippe, Kita und Tagespflegeeinrichtung zu einer Wiege für Demokratie wird.
Wodurch war deine Kindheit geprägt?
Wie viele von uns habe ich meine Kindheit nicht komplett gewaltfrei erlebt. Da gab es auf jeden Fall Strukturen von emotionaler häuslicher Gewalt. Andererseits habe ich tatsächlich eine sehr positive Kitaerfahrung gemacht. Und ich glaube, dass vieles von dem, wofür ich mich heute für jedes Kind einsetze – Teilhabe, Selbstbestimmung, gesehen und mit seinen Bedürfnissen ernst genommen zu werden – auf diese Zeit zurückgeht.
Magst du davon etwas erzählen?
Ich hatte das Glück, meine Kitazeit in einem von Eltern neu gegründeten Kinderhaus zu verbringen. Interessant ist, dass mir wahrscheinlich gerade die Tatsache der Neugründung richtungsweisende Impulse lieferte. Man kann sich das so vorstellen, dass wir Kinder der ersten Generation uns bereits kennenlernten und sozusagen miteinander eingewöhnten, als die Erwachsenen in der Anfangszeit noch mehr mit der pädagogischen und räumlichen Planung als mit uns beschäftigt waren. Ein bisschen wie beim Kindertisch auf einem großen Familienfest hatten wir den Raum und alle Zeit, die wir brauchten, um uns kennenzulernen und uns miteinander und auf unsere Art mit der neuen Situation vertraut zu machen. Damals habe ich durch diesen glücklichen Zufall selbst erlebt, dass und wie Peergroup-Eingewöhnung funktioniert.
Ziemlich genau 50 Jahre später erschien 2022 dein Buch »Peergroup-Eingewöhnung. Für Kita, Krippe und Kindertagespflege«.
Ja, das stimmt, und ich bin sicher, dass ich aufgrund meiner eigenen, ungeplanten Erfahrungen gleich, als ich von den Forschungen der Kindheitspädagogin Heike Fink in Tübingen zur Peergroup- Eingewöhnung hörte, wo es ja tatsächlich um Gruppen von Kindern geht, die gemeinsam neu in Einrichtungen ankommen, wusste, dass das funktioniert.
Im Arbeitsfeld der Kinderbetreuung haben sich in den letzten Jahrzehnten auch im Bereich der Eingewöhnung viele Entwicklungen vollzogen. Die von dir dargestellte Peergroup-Eingewöhnung ist eine von vielen neuen und interessanten Alternativen zum lange Zeit vorherrschenden Berliner Modell.
Ich würde sagen, dass das auch gut so ist, auf verschiedene Modelle zurückgreifen zu können, weil es ganz sicher nicht das eine beste Modell gibt. Das würde einfach der Vielfalt der Kinder und Familien und auch der Einrichtungen nicht gerecht. Ich glaube, wir sind inzwischen an dem Punkt angekommen, an dem wir erkennen, dass es nicht die eine Wirklichkeit und das eine Konstrukt nach Schema F gibt.
Anja Cantzler ist Sozialpädagogin, Supervisorin, Kita-Beraterin und Autorin zahlreicher Fachbücher. Ihre jüngsten Publikationen sind Stellvertretende Leitung in der Kita. Aufgaben – Rolle – Persönlichkeit von 2024, Sich seiner SELBST BEWUSST SEIN. Biografische Selbstreflexion – 2022 zusammen mit Lea Wedewardt – und im selben Jahr Peergroup-Eingewöhnung. Für Kita, Krippe und Kin- dertagespflege. Der hier veröffentlichte Text Schluss mit Irrtümern und Mythen in der Eingewöhnung ist eine gekürzte Version des gleichnamigen Beitrages in Anja Cantzlers Blog vom 09.08.2022 auf www. coaching-cantz- ler.de. Auf YouTube gibt es den Trailer Eingewöhnung in der Peergroup zum gleichnamigen Film von AV1-Pädagogik-Filme und unter Eingabe der Stichworte Podcast-Interview: Eingewöhnung in der Peergroup mit Anja Cantzler einen 55-minütigen Podcast mit Anja Cantzler. Live erleben kann man sie anlässlich des Pädagogischen Biografie-Kongresses am 23.11.24 in Berlin und auf dem am 30.04.2025 in Berlin und Bielefeld stattfindenden Fachtag zur gewaltfreien Kindheit. Infos und Anmeldemöglichkeiten sowie einen Trailer zum Film »Hinter guten Türen« von Julia Beerhold, welcher zum Biografie-Kongress in ganzer Länge als Eingangsimpuls gezeigt wird, findet man auf https://bilderkraft-fortbildung.de (dort unter »Veranstaltungen«). Ihr Web-Seminar: Eingewöhnung in der Peer-Group am 17.03.2025 findet online statt. Info und Anmeldung auf www.lvh-hardehausen.de (dort unter »Programm März 2025 16.00–19.00 Uhr auswählen).
Kontakt
www.coaching-cantzler.de
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09-10/2024 lesen.